Sammelband: Kurorte in der Region vom 18. bis zum 21. Jahrhundert
(shg – 29.5.24) Gesundheit, Unterhaltung, Erholung: Kurorte waren und sind seit dem 18. Jahrhundert wichtige gesellschaftliche Treffpunkte. In Kurorten wie Bad Nenndorf, Bad Eilsen, Bad Meinberg oder Baden-Baden begegneten sich seit dem 18. Jahrhundert Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit, von Exklusion und Inklusion, Wandel und Beharrungskraft, Freizeit und Arbeit, Luxus und Austerität. Bis heute sind Kurorte in ihrer jeweiligen Region wichtige Wirtschaftsfaktoren, Marker einer wechselvollen Tourismusgeschichte und Orte politischer Auseinandersetzung.
Der Tagungsband behandelt politik-, wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte: Wie veränderten Gesundheitskonzepte und politische Bedingungen die Kurorte? Welche sozialen Deutungen wurden mit ihnen verknüpft? Wie strahlten sie auf ihr Umfeld aus? Welche Gruppen nahmen am Kurleben teil? Worin bestanden dessen Schattenseiten? Diese und weitere Fragen werden anhand ausgewählter Fallstudien aus Schaumburg, Westfalen und anderen Regionen in Deutschland und Europa untersucht.
Der Sammelband präsentiert in 18 Beiträgen die Ergebnisse der internationalen Tagung, die die Schaumburger Landschaft in Kooperation mit dem LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, dem Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover und dem NLA Abteilung Bückeburg im September 2022 in der Wandelhalle in Bad Nenndorf organisiert hatte.
In ihrer Einleitung verdeutlichen die Herausgeber Matthias Frese, Lu Seegers und Malte Thießen, dass Kurorte seit dem 18. Jahrhundert in ganz Europa Landschaften prägen. Mit ihren Kurparks und häufig klassizistischen Kurgebäuden verbinden sie Natur und Kultur verbinden und stehen für Urbanität und Repräsentativität im ländlichen Raum. Kurorte waren und sind wichtige regionale Wirtschaftsstandorte – so auch im Schaumburger Land und in Westfalen. Ebenso prägend für Kurorte sind zeitspezifische gesellschaftliche Vorstellungen von Gesundheit sowie systemspezifische Gesundheitspolitiken. Insbesondere im 20. Jahrhundert mussten sich Kurorte immer wieder wechselnden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konstellationen anpassen. Bis heute stehen sie im Spannungsfeld von Rehabilitation und Prävention, Wellness und Tourismus und damit unter ständigem Veränderungsdruck. Damit gingen systemspezifische soziale und gesellschaftliche Veränderungen einher, die sich nicht zuletzt auf die medialen Repräsentationen der Kurorte auswirkten in Deutschland und darüber hinaus.
Kurorte stehen zudem nicht nur für Glanz und Glamour, sie sind vielmehr als soziale Kaleidoskope anzusehen, weil hier Menschen aus ganz verschiedenen sozialen Schichten zusammentrafen und -treffen. Dies betrifft nicht nur die Kurgäste, sondern in besonderem Maße auch die sogenannte „Hinterbühne“ der Kurorte, also jene Menschen, die gewissermaßen hinter den Kulissen für diverse Arbeitsbereiche zuständig sind – vom Badearzt bis hin zur Küchenhilfe im Krankenhaus. Inklusionen, aber auch Exklusionen sind dabei ein wichtiges Thema, wie etwa der Bäderantisemitismus in der NS-Zeit.
Kurorte stellen somit generell eine Arena für gesellschaftliche und systemspezifische Aushandlungs- und Veränderungsprozesse dar. Der Band ist in sechs Kapitel unterteilt.
Im ersten Kapitel mit dem Titel „Gesundheitsvorstellungen im historischen Längsschnitt“ zeigt Heiko Stoff, wie sich die medizinischen Indikationen für Kuraufenthalte zwischen dem 18. und frühen 20. Jahrhundert verändert haben. Dabei stand eine auf individuelle Menschenkenntnis fußende Naturheilkunde seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer stärker in Konkurrenz zu einer zunehmend naturwissenschaftlich-technischen Medizin, zumal die Wirkung von Mineralstoffen und entsprechenden Therapieverfahren wissenschaftlich kaum nachgewiesen werden konnten.
Winfried Süß stellt die Gesundheitspolitiken und die Rolle der Kurorte dabei für die Zeit des Nationalsozialismus, der DDR und der Bundesrepublik erstmals systematisch dar. Das Hauptmotiv für die Kur war in allen drei Systemen die Wiederherstellung und der Erhalt der Arbeitsfähigkeit der Kurenden. Dieses Motiv schlug sich auch in der Öffnung der Kureinrichtungen durch die jeweiligen sozialpolitischen Regelungen nieder. Zugleich stand die Kurmedizin in allen drei politischen Ordnungen unter permanentem Druck, die Wirksamkeit ihrer Heilverfahren wissenschaftlich nachzuweisen.
Dies führte zeitversetzt in der DDR und in der Bundesrepublik zu „Kurkrisen“ in den 1980er und 1990er Jahren. Autoritäre Kurregime, die vornehmlich auf Disziplinierung beruhten, waren indessen schon seit den 1960er Jahren „hüben wie drüben“ unter Druck geraten. Anna Michaelis zeichnet ausgehend von den USA die Popularisierung der Wellness-Bewegung seit den 1970er Jahren nach, die bei der touristischen Werbung der bundesrepublikanischen Kurorte seit den 2000er Jahren eine zentrale Rolle spielt.
Das zweite Kapitel mit dem Titel „Repräsentationen der Gesellschaft in Kurorten“ behandelt unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in Kurorten. Stefan Brüdermann, stellte das Grafenhaus Schaumburg-Lippe als Kurortbesucher und -betreiber vor. Dabei zeigte er u.a., dass Albrecht Wolfgang nicht nur selbst gern kurte, sondern auch einen Brunnen im Schlossgarten Stadthagen fördern ließ, der sich allerdings wegen des nahe gelegenen Bad Pyrmont nicht durchsetzen konnte.
Als erfolgreicher sollte sich die Schwefelquelle in Bad Eilsen erweisen, die Fürstin Juliane Ende des 18. Jahrhunderts förderte. Seine Hochzeit hatte Bad Eilsen nach dem Ersten Weltkrieg wie Lu Seegers in ihrem Beitrag zeigte. Grund dafür war der von Fürst Adolf II. errichtete Fürstenhof, ein Luxushotel, das höchsten Ansprüchen genügte. Außerdem warb die Kurverwaltung deutschlandweit intensiv für den Kurort und konnte den international vernetzten Augenarzt Maximilian Graf von Wiser gewinnen. Hochadel und Prominente wie Gerhart Hauptmann und Hermann Hesse hielten sich ab Ende der 1920er Jahre deshalb regelmäßig in Bad Eilsen auf. Jeannette von Laak verweist in ihrem Beitrag darauf, wie internationale Gäste in der Mitte des 19. Jahrhunderts Kurorten zu einem weltläufigen Image verhalfen, dabei aber weitgehend nach Nationen getrennt geblieben.
Fred Kaspar zeigt, dass schon im 18. Jahrhundert nicht nur der Adel und Bürgerliche die Kurorte frequentierten, sondern häufig auch bäuerliche Schichten, die entweder in so genannten Bauernbädern oder auch – allerdings oft separiert – in mondänen Kurorten Erholung suchten.
Das dritte Kapitel trägt die Überschrift „Der Kurort als ‚Hinterbühne‘: Inklusionen und Exklusionen“. Melanie Mehring behandelt in ihrem Beitrag an Beispielen aus dem 18. bis zum 20. Jahrhundert die zahlreichen Beschäftigten der Kurorte, die beispielsweise die Kurmittel anfertigten und die Kuranlagen pflegten. Während des Zweiten Weltkriegs griffen die Kurbetriebe auf den Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern zurück, um das Image einer heilen Welt und reibungslosen Abläufen aufrechtzuerhalten. Ab den 1960er Jahren warben die Kurbetriebe sukzessiv sogenannte „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeiter“ an. Wie David Templin anhand einer Analyse der „Pyrmonter Nachrichten“ zeigt, waren es vor allem griechische und türkische Frauen, die in Bad Pyrmont als Krankenschwestern, Servier- oder Küchenhilfen arbeiteten. In der Presse wurden sie aus einer freundlich-paternalistischen, aber auch exotisierenden Perspektive behandelt.
Jens Gründler und Jonathan Schlunck widmen sich dem komplexen Thema der Kinderkuren. Anhand der Kinderheime in den westfälischen Bädern Sassendorf, Bad Waldliesborn und Bad Salzuflen zeigen sie, dass die häufig unzureichende Stellenbesetzung mit teilweise nicht qualifiziertem Personal eine Hauptursache für Gewaltanwendungen durch Erzieherinnen war. Zugleich stellten die Praktiken und Programme von Kinderkurheimen und deren Personal einen Spiegel der Gesellschaft dar und geben ein trauriges Zeugnis ab von der langandauernden Selbstverständlichkeit von Gewalt als Erziehungsstil.
Das vierte Kapitel behandelt die medialen Repräsentationen von Kurorten. Astrid Köhler zeigt anhand ausgewählter Romane den Funktionswandel des Kurbades vom 18. bis 20. Jahrhundert, der eng an zeitgenössische gesellschaftliche Zustände geknüpft war. Die Palette reicht dabei vom „sozialen Ermöglichungsraum“ bis hin zum „Erinnerungsraum“, in dem die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verarbeitet werden. Christoph Classen stellt in seinem Aufsatz mit „Die Kur“ und „Das Kurheim“ zwei bundesrepublikanische Fernsehserien der 1970er Jahre vor, in denen Kurorte als Möglichkeitsräume abseits der Leistungsgesellschaft inszeniert wurden. Gesellschaftliche Veränderungen wie etwa die zunehmende Akzeptanz der Frauenerwerbstätigkeit wurden dabei in möglichst harmonisierender Form angesprochen, nicht zuletzt im Bild des „Kurschattens“.
Im fünften Kapitel geht es um die regionale und interkommunale Bedeutung von Kurorten. Eva-Maria Gajek zeigt am Beispiel von Baden-Baden, wie der Kurort um 1900 versuchte, sein zahlungskräftiges Klientel durch eine attraktive Ansiedlungspolitik fest zu binden. Matthias Frese analysiert, wie westfälische, Lippische und rheinländische Kurorte seit dem späten 19. Jahrhundert versuchten, sich zunehmend auch als touristische Orte zu präsentieren. Vehikel dafür waren der regionale Kurzzeittourismus und seit der „Kurkrise“ der 1990er Jahre verstärkt der „Wellness-Urlaub“. Am Beispiel der bayerisch-österreichischen Grenzregion zeigt Martin Knoll, wie begrenzte Thermalwasser-Ressourcen zu Kooperationen neuer Kurorte führten. Die Vermarktung der Region für den Aktiv- und Gesundheitstourismus führte zugleich zu enormen demografischen Dynamiken, die die Bevölkerungs- und Siedlungsstrukturen nachhaltig veränderten.
Im sechsten Kapitel wird der Blick auf West- und Osteuropa ausgedehnt. Wiebke Kolbe zeigt, dass englische Kurorte im 19. Jahrhundert stark sozial segregiert waren und mit den kontinentalen Kurorten nicht konkurrieren konnten. Gleiches galt für die schwedischen Kurorte, die allerdings das Prinzip der Egalität hochhielten. Während Kurorte in Schweden und Frankreich eher kleine Städte waren, befanden sich die Kureinrichtungen in England teilweise in Großstädten. Benedikt Tondera untersucht die Kurorte im Süden des russischen Zarenreichs und der Sowjetunion als Projektionsflächen sowohl für Fortschrittsfantasien als auch für Untergangsnarrative der russischen Gesellschaft in Spielfilmen. Hintergrund war, dass das Kurwesen in den südlichen Grenzregionen stets von dem Bemühen begleitet war, diese zuvor fremden Räume durch das russische Imperium auch kulturell zu vereinnahmen. Die starke Präsenz gerade der Krim als Kurort-Raum im Massenmedium Kinofilm während der Sowjetära und in zahllosen Weiderholungen im russischen Fernsehen seit
1991 dürfte die russische Annexion der Krim mitlegitimiert haben.
Kurorte als Kulisse für rechtsextreme Propaganda und zivilgesellschaftliche Gegenwehr – so lautet das Abschlusskapitel des Sammelbands, das den Abendvortrag der Tagung von dem Chefredakteur des Magazins ZEITGeschichte, Frank Werner, enthält. Er illustriert nachdrücklich, wie die Erinnerung an das Internierungsgefängnis „Wincklerbad“ der britischen Besatzungsmacht in Bad Nenndorf retrospektiv durch Rechtsextreme gekapert wurde. Nicht zuletzt durch regelmäßige Aufmärsche ab 2006 versuchten sie, die damaligen Internierten zu Opfern umzudeuten und dadurch den Terror und die Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes zu relativieren. Frank Werner stellt ausführlich die zivilgesellschaftlichen Reaktionen in Bad Nenndorf mit vielfältigen Gegenprotesten dar, die schließlich erfolgreich waren. Seit 2016 finden neonazistische Aufmärsche in Bad Nenndorf nicht mehr statt.
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