Einsatz im Epizentrum des Grauens
Erlebnisse eines Interhelp-Teams im Erdbebengebiet

KAHRAMANMARAS (TÜRKEI). Ein Helferteam der heimischen Hilfsorganisation Interhelp – Deutsche Gesellschaft für internationale Hilfe ist aus dem türkisch-syrischen Grenzgebiet zurückgekehrt. Das Epizentrum der verheerenden Erdbeben der Stärke 7,7 und 7,6, bei denen am 6. Februar mehr als 50000 Menschen den Tod fanden, lag in der Provinz Kahramanmaraş, im südlichen Teil Anatoliens, etwa 100 Kilometer nördlich der syrischen Grenze. Exakt dort, im Schatten des Taurus-Gebirges, waren die ehrenamtlichen Helfer im Einsatz. 

Interhelp-Vorsitzender Ulrich Behmann aus Hameln hat Bückeburg-Lokal einen Bericht von Aysel Cakir gesendet, den wir im Wortlaut veröffentlichen:

„Das, was wir gesehen haben, werde er nicht vergessen können“, erzählt der Interhelp-Vorsitzende Ulrich Behmann. Diese Bilder hätten sich eingebrannt. Das Leid der Überlebenden, die in ständiger Angst vor schweren Nachbeben leben und deshalb in Autos oder in Zelten schlafen, und das der Menschen, die teils viele Angehörige verloren haben, verfolge ihn bis in den Schlaf, sagt der Hamelner.

Der ehrenamtliche Helfer war auch nach den Erdbebenkatastrophen von Haiti und Nepal im Hilfseinsatz – er hat schon viel Elend gesehen auf dieser Welt, aber für das ungeheure Ausmaß der Zerstörung, die das Erdbeben von Kahramanmaraş angerichtet hat, gebe es wohl keine Worte, die annähernd beschreiben könnten, was das Interhelp-Team dort gesehen habe. „Wir stehen alle unter dem Eindruck der Erlebten, müssen diese Erlebnisse erst einmal verarbeiten“, sagt die Türkei-Koordinatorin der Organisation Interhelp, Nevin Savas, aus Bad Pyrmont.

In Ankara hat die gelernte Krankenschwester gemeinsam mit ihrer Cousine Banu Arslan Familienzelte herstellen und ins Katastrophengebiet liefern lassen. „In der Türkei sind solche Zelte günstiger als in Deutschland. Wir sparen also Spendengeld und helfen gleichzeitig der lokalen Wirtschaft“, sagt Ulrich Behmann. Außerdem sei der Transportweg vergleichsweise kurz und günstig.

Wie viele Menschen noch unter den Trümmern begraben sind, weiß niemand. Es gibt Schätzungen, wonach die Anzahl der Todesopfer auf 100000 ansteigen könnte. Allein in Kahramanmaraş sollen 17.000 Einwohner gestorben sein. 70.000 hätten Verletzungen erlitten, heißt es. Es sei eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes, hat der Leiter des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, David Beasley, gesagt.

Interhelp ist gebeten worden, die türkischen Behörden und Organisationen mit beheizbaren Zelten für obdachlos gewordene Familien und mit großen Rundhallen zu unterstützen. Die deutschen Helfer aus Hameln, Bad Pyrmont, Bückeburg und Rinteln werden bei ihrer Arbeit engagiert vom türkischen Generalkonsulat in Hannover und von Turkish Airlines unterstützt. Die Fluggesellschaft sponserte nicht nur die Tickets der Helfer, sie transportiert auch kostenlos 5 Tonnen Hilfsgüter nach Adana.

In großen Rundhallen, die mit mobilen Heizungen  ausgerüstet sind, werden schon bald Kinder, die ihr Zuhause verloren haben, spielen und essen können. „Es macht mich sehr traurig, zu wissen, dass viele Mädchen und Jungen ihre Mütter oder Väter und manche Menschen 20, 30 oder mehr Angehörige verloren haben  – und das innerhalb von wenigen Sekunden“, sagt der Bückeburger Interhelper Leonhard Maximilian Behmann. Viele Menschen hätten ihm ihre Geschichten erzählt. „Sie handeln von Tod, Trauer und Verzweiflung.“

An einer Straßenseite, auf der kein Stein mehr auf dem anderen steht, hat jemand einen Transporter geparkt. Die Heckklappe ist geöffnet, der Kofferraum gefüllt mit weißen Leinentüchern. Darin werden die von Kettenbaggern freigelegten sterblichen Überreste eingewickelt. Im Staub, den die großen Maschinen aufwirbeln, sind Männer zu sehen, die stumm Leichenteile in Tücher einwickeln. Es seien Bilder wie diese, die ihn bis in seine Träume verfolgen würden, sagt Ulrich Behmann. „Vergessen kann man so etwas nicht. Man kann es vielleicht verdrängen, aber …“ Der Interhelp-Vorsitzende bricht das Gespräch ab. Seine Stimme versagt. 

Arbeiter des städtischen Bauhofs der Hauptstadt Ankara haben damit begonnen, die in der Türkei gefertigten Familienzelte in Kahramanmaraş an Bedürftige zu verteilen und aufzustellen. Yusuf Sezer und Davud Dogankollu von der Ankara Buyüksehir Belediyesi haben sich freiwillig für den Einsatz im Katastrophengebiet gemeldet.

In einem Stadtviertel, in dem die meisten Häuser Risse haben und als einsturzgefährdet gelten, besucht das deutsch-türkische Helferteam das Ehepaar Aysel (38) und Sedat Göz (37) und deren kleine Tochter. Die Familie hat überlebt. Dafür dankt sie Gott. Aber sie ist obdachlos geworden. „Wir dürfen nicht zurück in unser Haus“, sagt Sedat Göz. „Die Behörden sagen, das sei viel zu gefährlich. Weggehen können wir auch nicht. Wir müssen das, was uns geblieben ist, bewachen.“ Das Ehepaar hat Angst vor Plünderern. Von Interhelp haben die Erdbebenopfer ein Zelt erhalten. Darin können sie vor ihrem Haus wohnen.

„Wir sind ja so dankbar und glücklich, dass wir von euch ein Zelt bekommen haben“, sagt Vater Sedat Göz. „Es schützt uns vor Regen, Schnee, Sonne und neugierigen Blicken.“ Einen Ofen hat er aus dem zerstörten Haus geholt. Er steht nun im Zelt. Die Menschen, denen Interhelp helfen kann, zeigen große Dankbarkeit. Aber auch diejenigen, die von dem Beben nicht betroffen sind, danken den Freiwilligen aus Norddeutschland immer wieder. „Wenn ich irgendetwas für euch tun kann, lasst es mich bitte wissen“ – diesen Satz hören die Helfer in der Türkei immer wieder. In Istanbul, in Adana und im Katastrophengebiet. „Jeder bedankt sich für unsere Hilfe“, sagt Leonhard Behmann. „Viele wollen Selfies mit uns machen – sogar Polizisten, Retter und Sicherheitsleute am Flughafen. 

Überall wird repariert, gebaggert und Schutt weggefahren.“ Beeindruckt habe ihn die Geschwindigkeit, mit der die Schäden des Erdbebens beseitigt werden, sagt Ulrich Behmann. Viele Helfer seien im Einsatz. Ob nun privat oder staatlich organisierte Hilfe – es wird in die Hände gespuckt und angepackt. Allen voran der türkische Katastrophenschutz AFAD, der in Kahramanmaraş schon sehr viele Zelte aufgestellt hat. Ein Such- und Rettungsteam der Jandarma fährt mit Rotlicht über die Trabzon Caddesi. An dieser Straße im Herzen der Stadt wird gerade ein zusammengestürztes Wohn- und Geschäftshaus abgetragen.

Löschfahrzeuge der Forstverwaltung stehen bereit. Am eilig wiederhergestellten Flugplatz stehen Hubschrauber der Jandarma bereit. Die Piloten fliegen Hilfsgüter zu abgelegenen Dörfern, bringen Überlebende in Sicherheit. Freiwillige des Roten Halbmondes und der Hilfsorganisation Verenel verteilen unter freiem Himmel Linsensuppe an Helfer und Opfer. Auch die Deutschen bekommen Suppe, Nudeln und Mineralwasser angeboten. Das Interhelp-Team nimmt dankend an. Die Freiwilligen aus dem Weserbergland sind erschöpft und müde, aber auch froh, Menschen in größter Not helfen zu können.

Mislina vom Roten Halbmond bittet Interhelp um Hilfe. „Seit fast drei Wochen schlafen meine Tante und ihr behinderter Sohn in einem Auto. Das Haus, in dem sie wohnten, kann jeden Moment einstürzen“, erzählt die Helferin. „Habt Ihr vielleicht ein Zelt für meine Verwandten übrig?“, fragt sie uns. „Auch in diesem Fall konnten wir helfen“, sagt der Interhelper Cem Ipek aus Rinteln.

Nicht nur Zelte werden aktuell dringend benötigt: Schlafsäcke, Iso-Matten, Nahrungsmittel-Pakete und Wohncontainer sind im Katastrophengebiet Mangelware. 1,5 Millionen Menschen sind durch das Jahrhundertbeben obdachlos geworden. Interhelp-Koordinatorin Nevin Savas hilft den Überlebenden noch auf eine andere Art – die Pyrmonterin hat ihre Ferienwohnung an der türkischen Schwarzmeerküste kostenlos für zwei Jahre zur Verfügung gestellt. „Jeder, der in der Türkei ein Haus oder eine Wohnung sein eigen nennt, kann es mir nachtun“, sagt Savas. 

Die Erde kommt nicht zur Ruhe in Kahramanmaraş. Innerhalb von 24 Stunden wurden allein am Samstag in oder in der Nähe von Kahramanmaraş 259 Nachbeben registriert. Sieben waren stärker als 4. In der zentralanatolischen Provinz Niğde wurde an diesem Tag nach Angaben der Katastrophenschutzbehörde AFAD sogar ein Beben der Stärke 5,3 gemessen. 11935 Erdbeben wurden laut AFAD schon in diesem Monat registriert. 

Für die Helfer aus dem Weserbergland steht fest: „Wir kommen wieder, helfen unseren türkischen Freunden“, sagt Interhelp-Vorsitzender Ulrich Behmann.  Wer Interhelp mit Geldspenden unterstützen möchte – hier sind die Spendenkonten:

IBAN DE32 2545 0110 0000 0332 33 (Sparkasse Hameln-Weserbergland)

IBAN DE49 2546 2160 0700 7000 00 (Volksbank Hameln-Stadthagen). Weitere Informationen im Internet unter: www.interhelp.info. Foto: INTERHELP

Kurz-URL: https://www.bueckeburg-lokal.de/?p=70575

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